Rechtliche Sicherheit im Wandel: Warum Art. 4 Abs. 3 GG stärker ist als jede Wehrpflichtdebatte
Die Welt ist im Umbruch. Seit der russischen Invasion in der Ukraine prägt der Begriff der "Zeitenwende" die politische Landschaft in Deutschland. Fast reflexartig ist damit auch eine Debatte zurückgekehrt, die viele für beendet hielten: die Diskussion über die Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Panzerlieferungen, Verteidigungsetat, Personalstärke der Bundeswehr – all das sind volatile Themen, die sich mit jeder neuen Sicherheitsanalyse ändern können. Inmitten dieser hitzigen und oft von kurzfristigen Sorgen getriebenen Diskussionen gibt es jedoch einen Anker, ein Fels in der Brandung des politischen Wandels: Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes.
Dieser kurze Satz ist ein Meisterwerk der rechtlichen Sicherheit und stellt eine unüberwindbare Hürde für jeden dar, der glaubt, man könne den Staat einfach wieder auf "Zwangsdienst" umstellen.
Das unantastbare Recht: Was sagt Art. 4 Abs. 3 GG?
Der Artikel ist von schlichter Klarheit:
"Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden."
Dieser Satz ist mehr als nur eine gesetzliche Regelung; er ist ein Grundrecht. Er steht im selben Artikel wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1) und ist damit im Kern des deutschen Verfassungsverständnisses verankert.
Seine Aufnahme ins Grundgesetz 1949 war eine direkte Lehre aus den Schrecken des Nationalsozialismus und zweier Weltkriege. Nie wieder sollte der Staat das Individuum zwingen können, gegen seine tiefste moralische Überzeugung zu töten oder am Töten mitzuwirken. Das Gewissen des Einzelnen wurde über den potenziellen militärischen Bedarf des Staates gestellt.
Die Wehrpflichtdebatte: Ein politisches Instrument
Schauen wir uns im Vergleich die Wehrpflichtdebatte an. Die Wehrpflicht wurde 2011 unter Verteidigungsminister zu Guttenberg nicht abgeschafft, sondern lediglich ausgesetzt. Rein rechtlich könnte sie durch ein einfaches Bundesgesetz (mit Zustimmung des Bundesrates) wieder aktiviert werden. Die gesetzliche Grundlage (Art. 12a GG) existiert weiterhin.
Genau hier liegt der Kern des Missverständnisses: Politiker, die heute eine "neue Wehrpflicht" oder ein "Dienstjahr" fordern, sprechen über diesen relativ einfachen politischen Akt. Sie diskutieren über Modelle, Finanzierbarkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Was sie dabei oft verschweigen oder vernachlässigen: Selbst wenn die Wehrpflicht morgen wieder eingeführt würde, bliebe Art. 4 Abs. 3 GG davon völlig unberührt.
Warum das Grundrecht immer stärker ist
Die Debatte über die Wehrpflicht ist eine politische Debatte über die Ausgestaltung der Verteidigungspolitik. Art. 4 Abs. 3 GG ist eine verfassungsrechtliche Garantie der Freiheit des Individuums.
Hier sind die Gründe, warum dieser Artikel stärker ist als jede politische Diskussion:
1. Die Hürde der Verfassungsänderung
Um die Wehrpflicht auszusetzen, reichte eine einfache parlamentarische Mehrheit. Um das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) auch nur anzutasten oder zu ändern, wäre eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich (Art. 79 Abs. 2 GG).
In der aktuellen politischen Landschaft Deutschlands ist eine solche Mehrheit für die Einschränkung eines so zentralen Freiheitsrechts de facto utopisch. Keine Regierung, egal welcher Couleur, könnte dieses Recht ohne massivsten gesellschaftlichen und politischen Widerstand beseitigen.
2. Der Wandel des Gewissensbegriffs
Früher, zur Zeit der aktiven Wehrpflicht, war die KDV ein bürokratischer Akt. Man musste einen Antrag stellen und sein "Gewissen" vor einem Ausschuss prüfen lassen.
Heute ist die Rechtslage klarer: Das Bundesverfassungsgericht hat über Jahrzehnte gestärkt, dass der Staat das Gewissen nicht "prüfen" kann. Eine ernsthafte, an moralischen Kategorien von "Gut" und "Böse" orientierte Entscheidung gegen den Dienst mit der Waffe ist ausreichend. Der Staat muss diese Entscheidung hinnehmen.
Sollte eine Wehrpflicht reaktiviert werden, stünde der Staat vor einem Verwaltungschaos. Jeder einzelne Wehrpflichtige könnte sich schlicht auf sein Gewissen berufen. Die "Filterwirkung" der alten Musterungsausschüsse wäre verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar.
3. Rechtssicherheit schlägt "Zeitenwende"
Politische Stimmungen sind volatil. Die "Zeitenwende" mag heute die Debatte bestimmen; in fünf Jahren mag es die "Friedensdividende" sein.
Das Grundgesetz ist explizit dafür geschaffen, nicht von solchen Stimmungen abhängig zu sein. Es schützt den Bürger vor den Launen der Tagespolitik. Die Wehrpflichtdebatte ist ein Ausdruck dieser Launenhaftigkeit – getrieben von externen Schocks. Art. 4 Abs. 3 GG ist der Ausdruck dauerhafter rechtlicher Sicherheit.
Fazit: Die Debatte läuft ins Leere
Die aktuelle Diskussion über die Wehrpflicht ist wichtig, um über die Zukunft der Bundeswehr und die Sicherheitsarchitektur Europas zu sprechen. Sie ist jedoch irreführend, wenn sie suggeriert, der Staat könne junge Menschen einfach wieder flächendeckend zum Dienst an der Waffe zwingen.
Das kann er nicht.
Jede Form eines neuen Pflichtdienstes – sei er militärisch oder zivil – müsste sich von vornherein der Tatsache beugen, dass der Dienst mit der Waffe eine rein freiwillige Entscheidung bleiben muss, solange das Gewissen des Einzelnen "Nein" sagt.
Politiker mögen die Wehrpflicht "reaktivieren" wollen. Aber sie können nicht das Gewissen reaktivieren. Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes sorgt dafür, dass die ultimative Entscheidung dort bleibt, wo sie in einer freien Gesellschaft hingehört: beim Individuum. Und das ist eine rechtliche Sicherheit, die weit über jede "Zeitenwende" hinaus Bestand hat.